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«Mich interessierten so viele Dinge, die nichts mit meinem Aussehen zu tun hatten»

Popkultur

«Mich interessierten so viele Dinge, die nichts mit meinem Aussehen zu tun hatten»

  • Interview: Claudia Senn; Bilder: Getty Images

Es war eine skandalöse Show – nicht nur wegen der Stinkbomben. 1970 wurde Jennifer Hosten zur ersten schwarzen Miss World gekrönt. Die heute 73-Jährige über die Ereignisse von damals und über den Kinofilm «Die Misswahl».

Die Verantwortlichen der BBC müssen Blut und Wasser geschwitzt haben, als der glamouröse Event so gründlich entgleiste. Mehr als hundert Millionen Zuschauer aus aller Welt sassen an jenem 20. November 1970 vor ihren Fernsehern, um die Liveübertragung der Miss-World-Wahl mitzuverfolgen.

Die schönsten Frauen aus 57 Ländern waren in der Londoner Royal Albert Hall gerade in Badeanzügen über die Bühne defiliert, als feministische Demonstrantinnen urplötzlich das Kommando übernahmen. Sie brüllten den Moderator nieder, warfen Mehl- und Stinkbomben auf die Bühne und skandierten «Wir sind nicht hübsch! Wir sind nicht hässlich! Wir sind wütend!».

Weil eine schwarze Frau gewann, zweifelten Medien am korrekten Ablauf der Wahl

Nicht minder skandalös fiel das Resultat des Wettbewerbs aus. Zum allerersten Mal wurde eine schwarze Frau zur Miss World gewählt: die damals 23-jährige Jennifer Hosten aus Grenada – was vielen Medien so unvorstellbar erschien, dass sie den korrekten Ablauf der Wahl anzweifelten.

Im Nachhinein betrachtet bedeutete jener Abend für gleich zwei wichtige Bürgerrechtsbewegungen einen Wendepunkt: für die Frauenbewegung, die bald darauf an Fahrt aufnahm, und für den Antirassismus, der dank Jennifer Hosten einen wichtigen Triumph feiern konnte. Völlig klar, dass dieser Stoff irgendwann verfilmt werden musste. In wenigen Tagen startet nun «Die Misswahl » in den Schweizer Kinos, mit Keira Knightley als feministische Provokateurin Sally Alexander und Gugu Mbatha-Raw als Miss World Jennifer Hosten.

Sie nutzte ihren Titel als Sprungbrett für gleich drei aufregende Karrieren

Die echte Jennifer Hosten ist heute 73 Jahre alt und fünffache Grossmutter, seit Langem lebt sie in Toronto. Auch die wackelige Zoom-Verbindung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie noch immer eine sehr schöne Frau ist. Doch auf ein Kompliment zu ihrem Äusseren reagiert sie verhalten. «Well, danke», antwortet sie zögerlich, «aber innere Schönheit ist so viel wichtiger als gutes Aussehen.» Keinesfalls sollte man den Fehler machen, sie auf ihren Erfolg als Schönheitskönigin zu reduzieren. Denn Hosten nutzte ihren Titel als Sprungbrett für gleich drei aufregende Karrieren: In jungen Jahren arbeitete sie als Stewardess und liess sich bei der BBC in London als Radiosprecherin ausbilden. Später studierte sie Politikwissenschaften und internationale Beziehungen, war für ihren Heimatstaat Grenada und ihre spätere Wahlheimat Kanada als Botschafterin und Hochkommissarin tätig.

Mit Mitte sechzig studierte sie Psychologie

Mit Mitte sechzig drückte sie abermals die Schulbank, diesmal um Psychologie zu studieren. Von den dramatischen Ereignissen bei der Miss-World-Wahl 1970 erzählt sie mit einer angenehm ruhigen Stimme, der man stundenlang zuhören könnte. Die Verfilmung findet sie gelungen, «auch wenn im Film nicht alles genauso dargestellt ist, wie es in Wirklichkeit war». Vielleicht gefalle ihr das Werk auch deshalb so sehr, «weil die Geschehnisse von damals mit der Sensibilität von Frauen umgesetzt worden sind», sagt sie. Tatsächlich sind an der Produktion überdurchschnittlich viele Frauen beteiligt, angefangen bei der Regisseurin Philippa Lowthorpe («Call the Midwife», «The Crown») über die Drehbuchautorin Rebecca Frayn bis hin zu diversen Produzentinnen.

annabelle: Jennifer Hosten, was ging in Ihnen vor, als feministische Demonstrantinnen damals die Bühne stürmten? Verstanden Sie, worum es den Protestierenden ging?
Jennifer Hosten: Um ehrlich zu sein, nein. Diese Art von Protest war mir völlig neu. In den Nachrichten hatte ich zwar gesehen, dass sich in den USA und anderen Ländern eine Frauenbewegung formierte, doch ich selbst war damit noch nicht in Berührung gekommen.

Die Demonstrantinnen beschimpften die Miss-World-Wahl als «Viehmarkt» und betrachteten Sie und die anderen Misses als Opfer patriarchalischer Ausbeutung. Aber war die Teilnahme für Sie als schwarze Frau nicht auch so etwas wie ein emanzipatorischer Akt?
Auf jeden Fall. Doch das wurde mir erst später klar. Bis zu diesem Tag hatten schwarze Frauen niemals die obersten Ränge erreicht. Nachdem ich den Wettbewerb gewonnen hatte, reiste ich ein Jahr lang rund um den Globus. Ich lernte berühmte Leute wie Ursula Andress kennen, unterhielt die amerikanischen Truppen in Vietnam, traf mich mit Minderheiten wie den Maori in Australien und sprach überall, wo ich auftrat, über Rassismus und Gleichstellung. Die Identifikation mit mir war überwältigend. Das lag auch an meiner Hautfarbe

Hat sich für schwarze Frauen durch Ihren Sieg überhaupt etwas verändert?
Die Show wurde von über hundert Millionen Menschen gesehen. Sie hatte die höchste Einschaltquote des Jahres und wurde in 58 Länder übertragen. Unterschätzen Sie das nicht! Mein Sieg bedeutete, wahrgenommen zu werden – als schwarze Frau und auch als Bürgerin des winzigen Inselstaates Grenada, den viele ja gar nicht kannten oder mit der spanischen Stadt Granada verwechselten. Viele schwarze Frauen sagten mir damals: Wenn du es geschafft hast, dann kann ich das auch – und sie meinten damit nicht meinen Erfolg in einem Schönheitswettbewerb, sondern Ausbildung, sozialen Aufstieg, ein besseres Leben. Dadurch, dass ich gewonnen hatte, rückte die Chancengleichheit zumindest ein kleines Stückchen näher.

Hätten Sie gedacht, dass Sie eine Chance auf den Sieg haben?
Bis zum Vorabend der Show war ich guter Dinge, denn ich hatte ja meine Geheimwaffe dabei: ein spektakuläres goldenes Abendkleid, das wie ein funkelnder Wasserfall an mir herabfloss. Doch dann wurden für die Hauptprobe die fünfzehn angeblich schönsten Mädchen ausgewählt. Bis auf eines – Miss Guyana – waren sie alle weiss, und ich war nicht darunter. Das hat mich kurzzeitig demoralisiert, danach aber nur umso entschlossener gemacht.

Die Show wurde von Bob Hope moderiert, einem berühmten britischen Comedian. Aus heutiger Sicht sind seine frauenfeindlichen Kommentare ein Affront.
Ehrlich gesagt waren sie damals schon schockierend, auch für mich. Bob war jemand, zu dem man aufblickte! Und dann traktierte er sein Publikum mit verunglückten Pointen wie: «Ich bin so glücklich, auf diesem Viehmarkt zu sein. Muh!»

Hope wies Sie und die anderen Misses an, sich wie Zirkuspferdchen um die eigene Achse zu drehen und Ihre Rückseite zu präsentieren, «the other point of view».
Schrecklich, nicht wahr? Das sagt sehr viel darüber aus, wie man Frauen damals behandeln durfte. Heute käme Bob Hope bestimmt nicht mehr damit durch.

Aus dem von der Apartheid geprägten Südafrika reisten zwei Misses an: die weisse Miss South Africa und die schwarze Miss Africa South. Was hatte es mit dieser Doppelkandidatur auf sich?
Das kam mir damals sehr seltsam vor. Wieso sollte ein Land gleich zwei Misses schicken dürfen? Das machte doch überhaupt keinen Sinn! Pearl Jansen, die schwarze Miss, wurde wohl auf den letzten Drücker eingeflogen, um der Political Correctness Genüge zu tun. Die Miss- World-Organisation wollte sich nicht nachsagen lassen, der verlängerte Arm der Apartheid zu sein. Ich freundete mich mit Pearl an – und war schockiert darüber, mit welchen Herausforderungen sie in ihrem Land zu kämpfen hatte.

Pearl Jansen wurde Zweite. Wie hat das Apartheid- Regime darauf reagiert, dass sie mehr Erfolg hatte als die weisse Mitbewerberin?
Die Regierung verbot Pearl, über ihren Erfolg zu sprechen. Sie durfte in Südafrika keinerlei öffentliche Termine wahrnehmen und geriet fast sofort in Vergessenheit. Hätte sie sich nicht an die Auflagen gehalten, wäre ihre Familie mit Repressalien bedroht worden. Pearl führte ein ganz zurückgezogenes, bescheidenes Leben und pflegt bis heute ihre kranke Mutter.

Haben Sie noch Kontakt zu ihr?
Lange Zeit hatte ich erfolglos versucht, sie zu finden, aber Pearl hat kein Internet. Erst Philippa Lowthorpe, der Regisseurin des Films «Die Misswahl», gelang es, sie aufzuspüren, mit Hilfe einer Südafrika-Korrespondentin der «Times». Pearl und ich wurden beide zur Premiere eingeladen, und sie bekam endlich die Aufmerksamkeit, die ihr zusteht – mit fünfzig Jahren Verspätung.

Wie fühlte sich die Krone eigentlich an, mit der Sie zur Siegerin gekürt wurden?
Sie war sehr schwer, und ich hatte furchtbare Angst, sie könnte runterfallen.

Viele Medien behaupteten damals, es könne bei der Wahl nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, wenn gleich zwei schwarze Frauen die obersten Ränge belegen. Sir Eric Gairy, dem Premierminister von Grenada, der ebenso wie andere Politiker in der Jury sass, wurde Betrug unterstellt.
Daran sehen Sie, wie unvorstellbar es damals war, eine schwarze Frau zur Schönsten der Welt zu küren. Viele Leute glaubten, so ein Entscheid könne nur mit Korruption zustande gekommen sein. Die Schlagzeilen am darauffolgenden Tag waren sehr hässlich und drehten sich einzig um die Tatsache, dass ich schwarz bin. Mir hat das damals sehr wehgetan. Ich bin im multikulturellen Grenada aufgewachsen, wo es ganz normal ist, dass die Menschen verschiedene Hautfarben haben, selbst innerhalb einer Familie. Rassismus hatte ich bis dato nicht erlebt.

Wie hat man Sie nach Ihrem grossartigen Sieg in Grenada empfangen?
Eine riesige Menschenmenge wartete am Flughafen auf mich, darunter Tausende von Schulkindern sowie die internationale Weltpresse. Es war unglaublich!

Ihr Titel als Miss World 1970 hat Ihnen eine mit Diamanten besetzte Tiara eingebracht, dazu 500 Pfund und Auftritte in aller Welt. Calypso-Sänger dichteten Lieder auf Sie, die Post von Grenada kreierte zu Ihren Ehren eine eigene Briefmarke. Hat Ihnen Ihr Sieg darüber hinaus Türen geöffnet, die sonst verschlossen geblieben wären?
Davon bin ich überzeugt. Nach meinen Auftritten als Miss World fand die Regierung von Grenada wohl, dass ich mein Land würdig vertreten hatte. Ich wusste mich auszudrücken und konnte mit allen möglichen Leuten reden. Deshalb fragte man mich später an, ob ich in den diplomatischen Dienst eintreten möchte.

Sie haben Politikwissenschaften und internationale Beziehungen studiert. War es eine bewusste Entscheidung, Ihre Karriere nicht auf Ihrer Schönheit aufzubauen?
Ich habe mich in meinem Leben immer wieder neu erfunden, denn mich interessierten so viele Dinge, die überhaupt nichts mit meinem Aussehen zu tun hatten. Die meisten Leute, mit denen ich beruflich zu tun hatte, wussten nicht einmal, dass ich Miss World war. Und das war auch gut so, die hätten mich doch sonst gar nicht ernst genommen! Als Diplomatin musste ich oft schwierige Verhandlungen führen und mich dabei meist gegen Männer durchsetzen. Meine Vergangenheit als Schönheitskönigin hätten sie vielleicht gegen mich verwendet, um mich zu diskreditieren. Als man mich nach Bangladesch versetzte, fand dort ein Kollege heraus, dass ich einmal Miss World war. Ich flehte ihn an, es keinem zu sagen.

In einem Alter, in dem andere sich zur Ruhe setzen, haben Sie noch einmal studiert, um Psychotherapeutin zu werden. Hatten Sie keine Lust, sich pensionieren zu lassen?
Well, letztes Jahr bin ich tatsächlich in Pension gegangen – weil zwei meiner Klienten mich gefragt hatten, wie es denn so war als Miss World. Die hatten ihre Therapeutin gegoogelt. Da habe ich gemerkt, dass es Zeit ist, meinen Beruf aufzugeben. Denn in der Therapie sollte es niemals um mich gehen, sondern immer um den Klienten.

Sind Misswahlen heute noch zeitgemäss?
Ich bin kein Mensch, der anderen sagt, was sie tun sollen. Aber eigentlich gibt es heute für Frauen doch viel bessere Möglichkeiten, Erfolg zu haben. Vor fünfzig Jahren war so eine Misswahl ein Sprungbrett hinaus in die grosse, weite Welt. Heute können Frauen doch alles werden. Junge Frauen sollten herausfinden, was für sie wirklich zählt, und dabei eher langfristig denken als kurzfristig. Mein Studium hat mir jedenfalls mehr Türen geöffnet als der Miss-World-Titel.

Jennifer Hostens Autobiografie ist unter dem Titel «Miss World 1970» erschienen (nur in Englisch; Sutherland House, Toronto 2020), ca. 20 Fr.

Aktuell im Kino: «Misbehaviour» (Fehlverhalten), der in der Schweiz unter dem etwas fantasielosen Titel «Die Misswahl» läuft. Sehenswert!

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1.

Jennifer Hosten an der Weltpremiere von «Misbehaviour» in London.

2.

Jennifer Hosten, hier im Jahr 1971: «Dadurch, dass ich gewonnen hatte, rückte die Chancengleichheit zumindest ein kleines Stückchen näher».