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Fremdbetreuung: So eine bist du also

Leben

Fremdbetreuung: So eine bist du also

  • Text: Lynn Zbinden*; Foto: Keystone

Kinder werden immer früher und immer länger fremdbetreut. Unsere Autorin hat sich dagegen entschieden – und erntet dafür vor allem Unverständnis.

Ich liebe es, meiner Tochter beim Schlafen zuzusehen. Wenn sie ganz entspannt auf unserem grossen Bett liegt und ich sehe, dass es ihr gut geht. Manchmal kommt es mir vor, als schaue ich ihr beim Wachsen zu. Weil ich sie so schon beobachte, seit sie auf der Welt ist. Ihr Schlaf ist mir heilig. Auch wenn es oft unvernünftig ist, sie schlummern zu lassen, weil sie dann am Abend nicht einschlafen will.

Der Zauber in unserer Wohnung prallte schnell auf die Realität im Treppenhaus: «Na, wann kommt sie denn in die Krippe?», fragten meine Nachbarn nüchtern, als meine Tochter nicht mal ein Jahr alt war, und mir der Gedanke, sie überhaupt abzugeben, noch völlig abwegig vorkam. «Ich geniesse die Zeit mit ihr», antwortete ich. Ungefragt hörte ich von allen Seiten: «Bald gehts los mit der Betreuung. Bald hast du wieder Zeit für dich.» Eine befreundete Analytikerin fand es wichtig, dass mein Kind – wenn es schon ohne Vater aufwächst – so schnell wie möglich Kontakte zu anderen Kindern knüpft. Mit kaum einem Jahr? Mir wurde suggeriert, dass ich schnell wieder unabhängig sein und mich den tollen Erwachsenensachen zuwenden soll. Dabei wollte und will ich nur eins: So viel Zeit mit meinem Kind verbringen, wie es geht.

Ohne es gross in Frage zu stellen, hatte auch ich mich einige Monate nach der Geburt meines Babys um einen Krippenplatz bemüht. Und damit bin ich nicht allein. Nach der letzten Erhebung des Bundesamts für Statis-tik von 2014 geben über siebzig Prozent der Schweizer Eltern ihre unter Dreijährigen in private oder öffentliche Betreuung. Ich hatte mich auf eine lange Wartezeit eingestellt, doch bekam fast auf Anhieb eine Zusage für einen Krippenplatz in der Nähe. Die Zusage fühlte sich im ersten Moment an wie ein Sechser im Lotto.

Doch mein zuversichtliches Gefühl schlug schlagartig um, als wir uns am zweiten Tag der Eingewöhnung das erste Mal trennen sollten. Mein sonst sehr zufriedenes Baby fing laut an zu weinen, und es erschien mir vollkommen abwegig, es zurückzulassen. Plötzlich hielt ich die Vorstellung nicht mehr aus, dass sie bei «Fremden» bleibt, egal wie nett sie waren. Ich kündigte den Vertrag nach einer Woche, ohne zu wissen, ob ich je wieder einen Betreuungsplatz für sie finden würde – und war glücklich und erleichtert über die Aussicht, sie bei mir zu behalten.

Plötzlich hielt ich die Vorstellung nicht mehr aus, dass sie bei «Fremden» bleibt, egal wie nett sie waren.

Bis zur Entscheidung gegen die Krippe hatte ich wenig geschlafen und viel gelesen. Über Kinder, die sehr jung von ihren Familien abgespalten wurden und bis heute mit den so ausgelösten Traumata kämpfen. Seien es Kinder aus Kibbuzim in Israel, wo es keinen Besitz geben durfte und auch die Kinder der Gemeinschaft gehörten. Oder Kinder mit DDR-Biografien, die als sogenannte politisch formbare Masse so früh wie möglich in Krippen kamen, damit ihre Eltern so schnell wie möglich wieder arbeiten konnten.

Der Vergleich hinkt, ich weiss. Übergänge zwischen der Elternwelt und der Betreuungswelt werden sanfter gestaltet. Ausserdem sind Kinder heute selten zufällig in unser Leben gepurzelt, sondern überwiegend ausdrücklich gewünscht, und es wird ein ganz schön grosser Aufwand um sie betrieben. Aber der gesellschaftliche Druck, sich möglichst früh von ihnen zu trennen, ist deutlich spürbar.

Theorien, dass Kinder sich besser entwickeln, je mehr Berührung und Nähe sie erfahren, werden dabei gern ausgeblendet. Der Neurowissenschaftler Joachim Bauer sagt zum Beispiel, dass nur die Eins-zu-eins-Be-ziehung, die intensive Spiegelung, eine optimale Verschaltung im Gehirn in dieser frühen Phase unterstützt. Vor dem dritten Lebensjahr sei das kindliche Gehirn nicht zu Kompromissfähigkeit oder Empathie in der Lage. Der Kinder- und Jugend-Psychiater Michael Winterhoff formuliert es so: Kinder müssten zuerst soziale und emotionale Intelligenz im Umgang mit Erwachsenen erwerben. Da das immer seltener stattfinde, blie-ben sie dumm. Kindergärten und Schulen seien zu Stätten des organisierten Verwahrens mutiert, in denen Kinder, auf sich selbst gestellt, keine Entwicklungsmöglichkeit für ihre emotionale und soziale Psyche hätten. Diese Thesen verstehe ich so, dass Kinder unter drei Jahren noch nicht reif für längere Zeitspannen unter Gleichaltrigen sind und auch noch nicht ausreichend Zuwendung, Liebe und Aufmerksamkeit durch Eltern genossen haben. Die häusliche Geborgenheit wird abgelöst durch das laute Gewusel der vielen anderen Kleinen. Ich stelle mir vor, dass das ein Nähe-Distanz-Schock für sie ist. Doch genau dahin geht der Trend: Kinder werden immer jünger abgegeben und verbringen immer mehr Stunden pro Tag «auswärts» und Eltern erzählen sich gegenseitig begeistert, was für Entwicklungsschübe die Kleinen machen, seit sie mit den anderen Kindern zusammen sind.

Es ist eine Herausforderung, sich dem gesellschaftlichen Konsens, dass das Abgeben ganz toll ist, zu entziehen. Nicht nur für mich. Meine Freundin gibt nicht zu, dass sie ein Fotoshooting ablehnt, um ihr einjähriges Kind nicht der Babysitterin in die Hände zu geben. Einer Bekannten wird beim Jobtraining gesagt: «So eine bist du also», als sie sagt, dass sie ihren Sohn freiwillig jeden Tag um 12 Uhr aus der Krippe abholt. Meiner Cousine ist es unangenehm zu sagen, dass sie noch nicht so schnell wieder arbeiten möchte, um länger mit ihrem Kind zusammen zu sein.

Als meine Tochter und ich wieder zusammen zuhause waren, war ich erleichtert und habe die Verlängerung in unserer exklusiven Mama-Kind-Blase sehr genossen. Wir waren antizyklisch auf Spielplätzen, ich habe ihr viel vorgelesen, wir sind spät schlafen gegangen, und ich habe sie morgens ausschlafen lassen. Aber egal wie anstrengend es ist, rund um die Uhr für sie da zu sein und ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ich bin fast immer glücklich, dass es ist, wie es ist.

Jetzt, mit fast drei Jahren, hat sie einen neuen Platz in einer anderen Krippe bekommen, und uns beiden fällt die Trennung leichter. Diesmal hat die Eingewöhnung über vier Wochen gedauert und verlief fast ohne Tränen. Meine Tochter hat verstanden, was passiert und dass ich bald zurückkomme, und es war, als dürfte sie mitbestimmen, was passiert. Doch auch wenn es viel stressfreier gelaufen ist, wiederholt sich etwas: Wieder möchte meine Umgebung Jubel von mir hören: Was für eine glorreiche Zeit anbricht und was für einen unfassbaren Fortschritt es für mein Leben bedeutet, wenn das Kind betreut wird.

Als sie ein Baby war, war der Tenor: «Gib sie ab, dann bist du frei!» Jetzt höre ich: «Lass sie in der Krippe. Es ist doch egal, wo sie schläft. Hauptsache, du hast Zeit.» Aber es ist mir nicht egal. Seit sie auf der Welt ist, gehört sie zu mir, und ich fühle mich am besten, wenn wir zusammen sind. Deshalb hole ich sie so oft, wie ich es einrichten kann, mittags ab. Dann wartet sie um zwölf Uhr auf der Bank in der Krippe und fällt mir um den Hals, sobald ich die Tür aufmache. Danach laufen wir Hand in Hand nachhause. Manchmal trage ich sie auch, obschon sie inzwischen schon viel zu schwer für weite Tragestrecken ist. Aber es ist so schön, diesen kleinen, süssen Mehlsack in den Armen zu halten. Dann schläft sie zuhause ein und ich habe noch mal fast zwei Stunden Zeit zum Arbeiten. Ich finde es immer noch wunderschön und kostbar, wenn sie hier aufwacht und meine Nähe sucht, und wir langsam in den zweiten Teil des Tages starten.

Seit sie auf der Welt ist, gehört meine Tochter zu mir, und ich fühle mich am besten, wenn wir zusammen sind.

Mir ist bewusst, dass das grosser Luxus ist! Die meisten Frauen – jedenfalls in unserem urbanen Umfeld – geben ihre Kinder nicht weg, um ihre Ruhe zu haben oder um sich selbst zu entfalten, sondern schlicht, weil der ökonomische Druck so hoch ist, dass Familien auf zwei Einkommen angewiesen sind. Ein Extrajahr für das Kind ist hier in der Schweiz für viele aus existenziellen Gründen gar nicht möglich, es sei denn, man hat geerbt oder nimmt einen Kredit auf. Das ist bei mir nicht wirklich anders. Selbstredend muss ich als freie Journalistin und Lehrerin Geld verdienen. Mit etwas Erspartem und viel Disziplin an den Vormittagen, häufigen Nachtschichten und der Solidarität meines Umfelds kommen wir knapp über die Runden. Auch das ist anstrengend und stressig: mit wenig Geld auszukommen.

Mein Ansatz mag darauf beruhen, dass mir mein Baby nicht einfach in den Schoss gefallen ist. Ich musste sehr hart dafür kämpfen und viele Strapazen über mich ergehen lassen. Insofern ist mein Bewusstsein dafür, dass mein Kind zu mir gefunden hat, besonders geschärft und ich sehe jetzt schon, wie unser Leben wieder Fahrt aufnimmt. Es zeichnet sich ab, dass die Zauberblase, in der ich am Anfang schwebte, langsam dem Alltag weicht und die magische Zeit nicht ewig währt. Aus diesem Grund investiere ich bewusst jeden Tag und jede Stunde. Im möchte die vielen kleinen Entwicklungsschritte erleben, möchte nicht verpassen, wie meine Tochter Puppenbabies bekommt, wie sie zum hundertsten Mal ihr Schaukelpferd aufzäumt, Bücher mit Inbrunst in ihrem Kauderwelsch vorliest, mir in ihrer Kinderküche einen Kaffee kocht, Rollenspiele mit zwei Klötzchen veranstaltet, supersüsse Worte erfindet und ganz wild oder ganz ruhig in meiner Nähe ist. Noch halte ich es nicht gut aus, wenn wir länger als ein paar Stunden getrennt sind. Ich fange dann immer noch an, sie körperlich zu vermissen. Bin ich so anders?