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Freundschaft: Warum es sich lohnt, Unterschiede auszuhalten

Zeitgeist

Freundschaft: Warum es sich lohnt, Unterschiede auszuhalten

Immer einer Meinung sein und die gesamte Freizeit zusammen verbringen: An dieses Idealbild von Freundschaft klammerte sich Autorin Sandra Brun lange. Und plädiert jetzt für eine ganz andere Herangehensweise.

Wir hatten gerade eine Vintage-Kommode mit Müh und Not in ihr Auto verfrachtet und quer durch die Stadt transportiert und wollten eigentlich Rosé trinken gehen, als meine Freundin in mein Schlafzimmer schaute, wo ich seit Wochen auf einer aufblasbaren Matratze schlief. Kurzerhand beschloss sie: Guter Schlaf hat Priorität und wir verbrachten den Abend bei Ikea statt in der Bar – was sich näher und verbundener anfühlte, als viele andere Treffen in letzter Zeit.

Nachdem ich vor ein paar Monaten meine romantische Beziehung beendet hatte, fand ich mich plötzlich in der Situation wieder, auch die platonischen Beziehungen in meinem Leben zu hinterfragen: Vor allem von langjährigen Freund:innen hatte ich mich in den letzten Jahren etwas entfernt – sei es, weil einige Familie hatten und andere nicht; einige sich impfen liessen und andere nicht oder wir Gleichstellung unterschiedlich interpretierten.

Führten wir Diskussionen, erhitzten sie schnell, zu weit entfernt die Leben, zu unterschiedlich die Meinungen. Hatte ich diesbezüglich schon länger eine dunkle Ahnung und redete mir diese noch schön, so beleuchtete spätestens die Pandemie die Differenzen wie ein Scheinwerfer.

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«Rund ein Fünftel der Freundschaften zerbricht an unterschiedlichen Meinungen zu den grossen Themen unserer Zeit»

Die Studie eines internationalen Marktforschungsinstituts zeigte, dass in Deutschland – und in der Schweiz wird es wohl ähnlich sein – rund ein Fünftel der Freundschaften an unterschiedlichen Meinungen zu den grossen Themen unserer Zeit zerbrechen. Und auch ich distanzierte mich von Freund:innen, die sich über Rassismus, Feminismus, die Pandemie – ganz allgemein über Gesellschaftspolitik andere Gedanken machen als ich. Oder noch schlimmer: keine.

Gleichzeitig klammerte ich mich an mein Idealbild von Freundschaften, einem engen Kreis, in dem absolut alles geteilt wird: Von den Werten bis zur kompletten Freizeit. Geprägt durch Serien wie «Sex and the City», mit denen ich gross wurde. Da erstaunt es nicht, dass ich lange davon ausging, alle meine Freund:innen müssten alle meine Bedürfnisse abdecken können.

Ganz oder gar nicht, quasi. Ohne wirklich zu realisieren, dass ich das selbst ja auch nicht leisten kann – oder will. Ich lerne gerade, was die deutsche Autorin Teresa Bücker so beschrieb: «Wir brauchen unterschiedliche soziale Verbindungen. Dass eine Person allein all unsere unterschiedlichen Bedürfnisse nicht stillen kann, lernen wir mit zunehmender Lebenserfahrung.»

Ich beginne, meine Freundschaften mit neuen Augen zu betrachten. Mir wird klar, dass wir nicht immer einer Meinung sein müssen, um befreundet zu sein. Uns nicht jede Woche treffen müssen. Oder zusammen an jede Demo gehen. Sondern uns stattdessen auf unsere gemeinsamen Nenner konzentrieren können. Auf das, was uns verbindet – statt auf das, was uns trennt. Wir halten aus, dass es verschiedene Welten gibt. Eine Erkenntnis, die wohl nicht nur Freundschaften, sondern auch dem ganzen gesellschaftlichen Diskurs guttäte.

So wächst gerade meine Dankbarkeit: Für die Freundin, die mit mir Möbel schleppt. Die Freundin, die mein Single-Mama-Leben teilt. Den Freund, mit dem ich durch die Nächte tanze. Die Freundin, mit der ich über meine Therapie spreche. Den Freund, mit dem ich über Dating-Apps diskutiere. Die Freundin, der ich jederzeit ins Telefon heulen kann. Und alle anderen. Denn es tut verdammt gut, zu wissen, auf wen ich in welchen Momenten wirklich zählen kann.

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