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Kommentar zur Eskalation im Iran: Die Schweiz muss handeln

Politik

Kommentar zur Eskalation im Iran: Die Schweiz muss handeln

Unsere Autorin Saghi Gholipour fordert: Die Schweiz sollte sich auf die richtige Seite der Geschichte stellen.

Mitte September wurde Mahsa Jina Amini von der Sittenpolizei verhaftet, weil offenbar ihr Kopftuch verrutscht war. Drei Tage später war sie tot. Der Mord an der 22-Jährigen hat im Iran landesweite Proteste ausgelöst, die unter dem Motto «Zan, Zendegi, Azadi», also «Frau, Leben, Freiheit», stehen. Das ganze Land protestiert: Frauen und Männer, alle Altersgruppen, alle sozialen Schichten, alle Provinzen.

Die Menschen, die sich erheben, müssen fürchten, dass sie von den Sicherheitskräften bedrängt werden. Oft bezahlen sie mit ihrer Freiheit – oder ihrem Leben. Es sind die Frauen, die mit ihrem Mut und ihrer Widerstandskraft die Proteste anführen.

Wenn wir die Geschichte von Demokratisierungs- und Protestbewegungen anschauen, hiess es immer, dass zuerst «die grossen Fragen» wie soziale Gerechtigkeit oder die wirtschaftlichen Probleme gelöst werden sollen, bevor an so etwas wie Frauenrechte überhaupt gedacht werden könne.

Wenn wir heute die feministisch geprägte Demokratiebewegung im Iran betrachten, sind die Forderungen umgekehrt: In der iranischen Bevölkerung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine freie und gerechte Gesellschaft nur dann geschaffen werden kann, wenn zuallererst die Frauen frei sind. Das macht Hoffnung – so gab es das noch nie.

Die Stimme der Frau zählt nur die Hälfte

Einer der ersten Entscheide nach der Islamischen Revolution 1979 war, den Frauen die Rechte zu beschneiden und den Hijab aufzuzwingen. Seither sind Zeugenaussagen einer Frau vor Gericht nur noch halb so viel wert wie die eines Mannes. Frauen dürfen nur mit Zustimmung ihres Ehemanns oder Vaters arbeiten oder reisen. Sind Söhne zweijährig, gehört dem Vater fortan das Sorgerecht, bei Mädchen gilt dasselbe ab sieben Jahren. Frauen haben kein Recht auf Scheidung, und wenn es doch zur Scheidung kommt, verlieren sie das Sorgerecht für ihre Kinder.

Der Hijab ist symbolisch mit dem islamischen Regime gleichzusetzen. Fällt der Hijab, fällt das Regime. Es ist noch nicht absehbar, was nach der Islamischen Republik kommen wird. Klar ist jedoch, dass es für die Menschen im Iran keinen Weg zurück gibt.

Was derzeit im Iran passiert, betrifft auch uns Schweizer:innen. Das islamische Regime destabilisiert nicht nur den Nahen und Mittleren Osten. Assad wird in seinem seit 2011 anhaltenden Bürgerkrieg von der Revolutionsgarde und den Quds-Milizen militärisch massiv unterstützt. Das islamische Regime führt enge Beziehungen zu Putin, der gemäss Medienberichten billige iranische Drohnen im Krieg gegen die Ukraine einsetzt. Die Folgen des Ukrainekriegs spüren wir direkt in Form steigender Energiepreise und der anziehenden Inflation.

Nicht zuletzt steht die Schweiz besonders in der Verantwortung, weil sie mit ihren guten Diensten die Interessen der USA gegenüber dem iranischen Staat vertritt und so direkten Zugang zu den Machthabern hat.

Erst die guten Dienste, dann die Moral

Die Schweiz sieht sich gerne als Hüterin der Menschenrechte und Hort der Freiheit – und sie hat im Iran eine besonders einflussreiche Rolle. Genau um diese Werte geht es heute im Iran: Freiheit, Menschenrechte, Demokratie. Doch die Schweiz interpretiert ihre Rolle als neutraler Staat sehr zurückhaltend. Offenbar kommen erst die guten Dienste, dann die Moral.

Die Schweiz sollte sich auf die richtige Seite der Geschichte stellen und aufhören, mit einem Regime zu verhandeln, das nicht einmal vor der Tötung der Zivilbevölkerung zurückschreckt. Die iranische Machtelite muss daran gehindert werden, Gelder aus dem Iran abzuführen. Ihre Konten und die Konten ihrer Kinder, der sogenannten Aghazadeh, die im Westen ein Leben in Saus und Braus führen, wie es für gewöhnliche Iraner:innen nicht einmal vorstellbar, geschweige denn erreichbar ist, müssen sofort eingefroren werden. Die Verantwortlichen der Regierung, der Revolutionsgarden und der paramilitärischen Miliz Basij gehören auf Sanktionslisten wie in Kanada und der EU.

Wenn die Schweiz handelt, handelt auch die Welt. Letzte Woche haben 100 Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft einen Aufruf an den Bundesrat gestartet, in dem er zum sofortigen Handeln aufgefordert wird. Mittlerweile haben den offenen Brief rund 15’000 Menschen unterzeichnet.

Saghi Gholipour kam als kleines Kind in die Schweiz, wo sie aufgewachsen ist und Politikwissenschaft studiert hat. Heute engagiert sie sich bei Free Iran Switzerland dafür, dass die Stimme des iranischen Protests auch in der Schweiz gehört wird. Sie ist Mitorganisatorin der nationalen Kundgebung am Samstag, 5. November 2022, auf dem Bundesplatz in Bern.

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