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Simonetta Sommaruga: «Manche hätten gern gesehen, dass ich die Nerven verliere»

Politik

Simonetta Sommaruga: «Manche hätten gern gesehen, dass ich die Nerven verliere»

Anfang 2021 sprachen wir mit Simonetta Sommaruga über 50 Jahre Frauenstimmrecht, die Angst der Männer und feministische Vorbilder. Zum Rücktritt der Bundesrätin das grosse Interview von Helene Aecherli und Sven Broder aus dem Archiv.

SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga gab am Mittwoch bekannt, ihr Amt nach zwölf Jahren per Ende Jahr abzugeben. Der Schritt, den sie mit persönlichen Gründen erklärt, komme auch für sie überraschend, sagte sie an der Pressekonferenz in Bern: Ihr Mann erlitt vor wenigen Tagen einen Schlaganfall.

Anfang 2021 trafen Reporterin Helene Aecherli und Sven Broder, Leiter Reportagen und Mitglied der Chefredaktion, die Bundesrätin zum grossen Interview.

annabelle: Frau Bundesrätin, die Schweiz hat erst 1971 das Frauenstimm- und Wahlrecht eingeführt – als eines der letzten Länder Europas. Frauenaktivistinnen sehen in der jahrzehntelangen Verweigerung dieser fundamentalen politischen Rechte eine Menschenrechtsverletzung und verlangen vom Bundesrat zumindest eine formale Entschuldigung. Verstehen Sie dieses Anliegen?
Simonetta Sommaruga: Wenn diese Forderung kommt, werden wir im Bundesrat darüber diskutieren.

Das klingt nicht besonders kämpferisch. Finden Sie es als Frau denn nicht auch beschämend?
Natürlich ist es auch für mich kaum zu glauben – und das sage ich jetzt als sechzigjährige Frau –, dass die Schweiz bis vor fünfzig Jahren eigentlich keine Demokratie war. Die Frauen wurden über Jahrzehnte für politisch unmündig erklärt, sie durften weder mitreden noch mitgestalten. Dies ist mit ein Grund dafür, dass wir in unserem Land betreffend Gleichstellung auch heute noch sehr grosse Defizite haben. Gleichzeitig lohnt es sich nicht, mit Groll zurückzuschauen. Wir müssen das Jubiläumsjahr nutzen, um in der Gleichstellungspolitik nochmal einen grossen Schritt vorwärtszumachen – und zwar zusammen mit den Männern.

Was stimmt Sie da optimistisch?
Unter anderem sicherlich die Erinnerung an den nationalen Frauenstreik im vorletzten Jahr: Diese Kraft, aber auch die Wut, die da spürbar wurden – und der Wille, in diesem Land etwas zu bewegen. Ich bin jedenfalls hoch motiviert, Dampf zu machen.

Blicken wir kurz zurück: 1971 waren Sie elf Jahre alt. War die Abstimmung bei Ihnen zuhause ein Thema?
Meine Mutter war damals eine Familienfrau mit vier kleinen Kindern – keine Revolutionärin, die an vorderster Front fürs Frauenstimmrecht gekämpft hätte. Aber ich erinnere mich gut daran, wie sie das erste Mal im Gemeindehaus wählen ging – sonst war immer nur mein Vater dort drin verschwunden, und wir Kinder warteten draussen und wunderten uns, was er da wohl machte. Und dann ist sie zusammen mit dem Vater dort hineingegangen. Da war ich einfach nur stolz. Meine Mutter hat ihr Stimm- und Wahlrecht danach sehr ernst genommen, sich informiert und praktisch nie eine Abstimmung verpasst.

Sie wuchsen in einem eher wertkonservativen Haushalt auf. Sie selbst sagten einmal, dass Sie sich für die Ausbildung zur Pianistin aus «weiblichen Überlegungen» heraus entschieden hätten. Sie dachten, dieser Beruf liesse sich gut vereinbaren mit Familie und Kindern. An die Option «Mutter und Karriere» scheinen Sie in jungen Jahren gar nicht gedacht zu haben?
Das Umfeld im Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, war sehr traditionell. Sins war ja auch eine jener Gemeinden, die das Frauenstimmrecht damals abgelehnt hatten. Frauen, die Mädchen wie mir ein anderes Modell vorgelebt hätten – etwa ein Leben mit Kindern und Berufstätigkeit –, gab es praktisch nicht.

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«annabelle hat mit ihrer Petition 2012 zweifellos den Boden für die Frauenquote gelegt»

Hatten Sie dennoch weibliche Vorbilder?
Eine Grosstante; sie war unverheiratet, hatte eine Führungsposition inne und war sehr weltgewandt. Von ihren Reisen brachte sie immer Bilder mit. Ich habe die Dia-Abende mit ihr geliebt. Sie lebte ein anderes Frauenleben, eine Alternative zu dem, was ich kannte. Später, am Konservatorium, war die Pianistin Elisabeth Leonskaja mein grosses Vorbild. Sie ist für mich noch heute eine der grossartigsten Musikerinnen.

Gab es für Sie so etwas wie ein feministisches Erweckungserlebnis?
Als ich in Freiburg Klavier unterrichtete und Konzerte gab, wuchs das Bedürfnis in mir, noch etwas anderes zu tun. Also übernahm ich den Nachtdienst in einem Haus für geschlagene Frauen. Das hat viel in mir ausgelöst: Ich sah, dass häusliche Gewalt nicht einfach eine Privatangelegenheit zwischen Frau und Mann ist und dass Frauen, die geschlagen werden, nicht einfach «Pech» gehabt haben. Ich erkannte: Häusliche Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem, das uns alle angeht! Und dass man für diese Frauen seine Stimme erheben muss, wenn man etwas verändern möchte. Diese Frauen selbst hatten ja keine Stimme und nicht die Kraft, sich in ihrer schwierigen Lage auch noch juristisch zu wehren. Ausserdem mussten in den meisten Fällen die Frauen die Wohnung verlassen, wenn sie geschlagen wurden. Mir war klar: Das geht nicht. Und so habe ich angefangen, Podien zu organisieren. Das alles hat mich schon sehr politisiert.

Sie sagten, das Jahr 2021 sei ein Jahr, um Dampf zu machen. In welchen Bereichen?
Im Juni stimmen wir voraussichtlich über das Klimaschutzgesetz ab. Interessant ist, dass bei der allerersten eidgenössischen Abstimmung, bei der die Frauen 1971 an die Urne gehen konnten, der neue Umweltschutzartikel in der Bundesverfassung verankert wurde. Ich bin zuversichtlich, dass die Frauen fünfzig Jahre später wieder dafür sorgen werden, dass wir nun auch das Gesetz für den Klimaschutz unter Dach und Fach bringen. Es geht hier um unsere Enkelinnen und Enkel und darum, dass wir heute Verantwortung übernehmen, damit auch sie ein gutes Leben führen können.

Wie gross ist Ihre Freude darüber, dass zu Beginn dieses Jahres im Rahmen der Aktienrechtsrevision die Frauenquote in Kraft getreten ist?
Natürlich sehr gross. Das ist ein Meilenstein!

Die rund 250 börsenkotierten Firmen in der Schweiz sind nun verpflichtet, den Frauenanteil in Verwaltungsräten auf dreissig Prozent und in Geschäftsleitungen auf zwanzig Prozent zu erhöhen. Diese Frauenquote war eines Ihrer zentralen Themen als Justizministerin.
Ja. Und Ihr Magazin, annabelle, hat mit ihrer Petition für eine befristete Frauenquote 2012 zweifellos den Boden dafür gelegt. Sie haben das Thema quasi aus der radikalfeministischen Ecke geholt. Als ich es dann in den Bundesrat bringen wollte, sagte man mir: «Vergiss es! Das bringst du nie durch!» Es ist zum Glück – und zum Erstaunen vieler – anders gekommen.

Das neue Gesetz ist jedoch ein ziemlich zahnloser Tiger: Schafft es ein Unternehmen nicht, seinen Frauenanteil zu erhöhen, muss es sich einzig im Geschäftsbericht erklären. Sanktionen gibt es keine.
Das stimmt – auf den ersten Blick. Aber schauen Sie sich die Abstimmung damals im Nationalrat an, das Ergebnis war haarscharf: 95 zu 94 Stimmen – bei drei Enthaltungen! Es geht in der Schweiz immer darum, politische Mehrheiten zu finden. Und angesichts dieses knappen Abstimmungsresultats war diese Vorlage das, was möglich war. Und noch etwas zum «zahnlosen Tiger»: Unterschätzen sie die Macht der Transparenz nicht, die nun eingefordert wird. Und zwar per Gesetz. Unternehmen müssen darlegen, wie hoch ihr Frauenanteil in den obersten Etagen ist. Und sie müssen sich erklären, wenn sie die Richtwerte nicht erreichen. Wäre dies so harmlos, wie Sie sagen, wäre der Widerstand nicht so gross gewesen. Denn wird etwas in einem Gesetz verankert, bildet dies auch einen gesellschaftlichen Konsens ab. Das heisst, der Druck und die Erwartungshaltung steigen – nicht nur auf diese 250 Firmen, sondern generell. Denn welche gut ausgebildete Frau möchte heute noch in eine Geschäftsleitung, wo sie die einzige Frau sein wird – sie wird sich zu Recht sagen: «Ich lasse mich doch nicht als Alibifrau verheizen!»

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«Gemischte Teams sind wirtschaftlich erfolgreicher. Das hören zwar nicht alle gern, es ist aber so»

Aber warum bündeln Sie diese Geschäftsberichte nicht zumindest und werten sie aus?
Das Parlament wollte keinen öffentlichen Pranger. Aber diese Geschäftsberichte sind ja keine Geheimdokumente. Das Gesetz wird also durchaus seine Wirkung erzielen, da bin ich mir sicher. Zudem darf man auch das ökonomische Argument nicht ausser Acht lassen: Gemischte Teams sind wirtschaftlich einfach erfolgreicher. Das hören zwar nicht alle gern, es ist aber so. Ausserdem herrscht Fachkräftemangel – gleichzeitig sind viele Frauen top ausgebildet, aber in den Chefetagen massiv untervertreten. Das zeigt doch, dass etwas nicht stimmt und dringend korrigiert werden muss, zugunsten der Frauen, der Familien, der Wirtschaft.

Sie stehen seit zwei Jahren dem UVEK vor, dem Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation. Wie hoch ist der Frauenanteil bei Ihnen?
Unterschiedlich. Im Generalsekretariat praktisch fünfzig-fünfzig, in sehr technischen Ämtern leider deutlich tiefer. Das ist bei uns ein grosses Thema. Bis vor Kurzem hatte nur eines der sieben Ämter eine Direktorin, jetzt sind es immerhin zwei. Beim UVEK dreht sich viel um Technologie: Nuklearsicherheit, Eisenbahnen, Strassenbau oder auch Drohnen. Leider ist es nach wie vor nicht leicht, für diese Bereiche weibliche Führungskräfte zu finden. Frauen sind da noch immer rar.

Was ist zu tun?
Es gibt keine Patentlösung. Das Problem beginnt ja bereits bei der Frage: Warum trennen sich die Berufsbilder bei jungen Frauen und Männern noch heute so stark? Viele Mädchen sind sehr gut in Mathematik und finden das Fach auch spannend. Trotzdem sind sie später in technischen Fächern oder Lehrgängen massiv unterrepräsentiert. Ausgerechnet in einem Feld, in dem Fachkräfte fehlen, in Berufen, die Zukunft haben. Wir müssen uns also überlegen, was zu tun ist, damit Frauen auch dranbleiben.

Wie gefällt es denn Ihnen beim UVEK?
Es ist ein grossartiges Departement. Hier kann ich die Zukunft unseres Landes mitgestalten: In welcher Umwelt leben wir 2050, wie bewegen wir uns künftig fort? Welche Energien nutzen wir? Das alles sind spannende und wichtige Themen, die das Leben von uns allen ganz direkt betreffen.

Kommen wir zurück zum Stichwort weiblicher Fachkräftemangel: Ein Instrument, um diesen zu beheben, wäre die Individualbesteuerung. Gemäss einer Studie des Forschungsbüros Ecoplan würden gerade gut ausgebildete Frauen zwischen 25 und 55 Jahren ihr Erwerbspensum erhöhen oder nach einer Mutterschaft überhaupt wieder aufnehmen, wäre der entsprechende steuerliche Anreiz gegeben. Laut Ecoplan würde der Pool weiblicher Fachkräfte auf bis zu 60 000 Vollzeitbeschäftigte anwachsen. Trotzdem stemmen sich vor allem bürgerliche Parteien gegen die Individualbesteuerung. Können Sie uns das erklären?
Macht annabelle jetzt auch noch eine Petition für die Individualbesteuerung? (lacht)

Wer weiss. Immerhin stammt das aktuelle Steuersystem noch aus der Nachkriegszeit und zielt unseres Erachtens vor allem auf den Erhalt des traditionellen Familienmodells ab. Es ist doch höchste Zeit, dass Frauen individuell besteuert und damit auch diesbezüglich zu mündigen und unabhängigen Bürgerinnen werden.
Die Individualbesteuerung wird seit Jahren diskutiert. Bis jetzt sind entsprechende Vorlagen immer abgelehnt worden, insbesondere von den Kantonen. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass ein gewisses Umdenken statt­findet.

Eine weitere Erbsünde der Schweizer Gleichstellungspolitik ist die Lohnungleichheit. 2018 betrug das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern in der Gesamtwirtschaft 11.5 Prozent, in der Privatwirtschaft gar 14 Prozent. Jedes Jahr entgeht Schweizer Arbeitnehmerinnen eine Milliardensumme.
Das ist ein grosser Skandal! Wenn eine Frau für die gleiche Arbeit weniger Lohn bekommt, nur weil sie eine Frau ist, dann suggeriert man ihr: «Du bist weniger wert.» Das ist die Grundaussage der Lohnungleichheit. Und auf diesem Nährboden wachsen Sexismus und andere Formen der Diskriminierung.

Seit Juli 2019 muss ein Prozent aller Unternehmen alle vier Jahre eine Lohngleichheitsanalyse durchführen. Auch diese Massnahme stand ganz oben auf Ihrer Gleichstellungsagenda – und auch sie ist zahnlos, weil ohne Kontrolle oder Sanktionen.
Zahnlos ist das Gesetz ganz und gar nicht. Andere Staaten gehen zwar weiter, das stimmt. Aber wie bei der Frauenquote gilt auch hier: Wichtig war mir, dass man die Diskriminierung nachweisen kann – und zwar nach harten, wissenschaftlichen Kriterien. Und dank diesem Gesetz müssen Arbeitgeber in ihrem Betrieb eine Analyse durchführen. Wenn die Fakten auf dem Tisch liegen, wird ein Arbeitgeber lieber etwas in seinem Lohnsystem ändern, statt vor seine Belegschaft treten und erklären zu müssen: «Ja, bei uns werden Frauen diskriminiert.» Da bin ich mir sicher.

«Gleichstellung ist ein Kampf. War immer ein Kampf. Und wir kämpfen weiter»

Als eine Art öffentlicher Pranger fungieren heute Social Media. Viele Firmen fürchten sich vor einem Shitstorm. Könnte das gerade im Kampf gegen Frauendiskriminierung helfen?
Mag sein. Mir ging es stets darum, Transparenz zu schaffen. Und welche Kraft Transparenz entwickeln kann, insbesondere wenn sie gesetzlich eingefordert wird, ist mir schon länger bewusst. Deshalb gab es ja auch so viel Widerstand dagegen. Bei den beiden Vorlagen zur Lohngleichheit und zur Frauenquote habe ich so ziemlich jedes Störmanöver erlebt, das man sich vorstellen kann. Trotzdem bin ich hartnäckig drangeblieben. Das hat sich gelohnt, denn schlussendlich hat niemand gewagt, das Referendum zu ergreifen.

Trotzdem: Gleichstellungsgesetze provozieren nach wie vor enorme Widerstände. Orten Sie in der Schweiz eine tiefgreifende Misogynie? Oder ist es einfach nur die Angst der Männer vor dem Verlust ihrer Macht?
Frauen dürfen in der Schweiz erst seit fünfzig Jahren politisch mitreden, das wirkt natürlich nach. Auf dem Papier ist die Gleichstellung zwar relativ schnell vorangekommen, aber in der Gesellschaft, wo es um Geld, Macht und Einfluss geht, ist es noch nicht überall selbstverständlich, dass Frauen genauso vertreten sind wie Männer. Wäre dies anders, bräuchten wir weder eine Frauenquote noch ein Gesetz, das verhindern soll, dass eine Frau 600 Franken weniger pro Monat verdient, nur weil sie eine Frau ist. Gleichstellung ist ein Kampf. War immer ein Kampf. Und wir kämpfen weiter.

Also geht es in erster Linie doch um die Angst der Männer vor dem Machtverlust?
Die Verteilung von Macht und Einfluss ist immer ein gesellschaftliches Ringen. Allerdings sind Frauen ja keine Minderheit. Im Gegenteil. Und warum die Mehrheit immer noch so kämpfen muss, um nicht diskriminiert zu werden, ist, sagen wir mal, schon sehr speziell. Auch die Verfassung hält zwar fest, dass der Bundesrat nach verschiedenen Landesteilen und Sprachregionen zusammengesetzt sein muss, aber zum Geschlechterverhältnis steht nichts. Mehrere Versuche, das zu ändern, sind gescheitert. Das sagt schon etwas über das Verhältnis der Geschlechter in unserem Land aus.

Gerade der Kampf um das Frauenstimmrecht hat gezeigt: Wer auf föderalistische und basisdemokratische Entscheide setzt, nimmt letztlich sogar in Kauf, dass die Hälfte der Bevölkerung über Jahrzehnte politisch mundtot bleibt. Ist unser politisches System schuld, dass es Gleichstellungsthemen so schwer haben?
Da sehe ich keinen Zusammenhang. Einzelne Kantone sind ja beim Frauenstimmrecht vorausgegangen, da hat der Föderalismus also im positiven Sinn gespielt.

Es gab dann aber auch einen Kanton, den man dazu zwingen musste.
Ja, aber das ist Teil des Föderalismus. In der Schweiz kann die Bevölkerung zum Schluss über jedes Gesetz abstimmen. Man kann also nur so viel tun, wie die Gesellschaft mitträgt. Deshalb macht man gerade in gesellschaftspolitischen Fragen kleinere Schritte. Jetzt kommt zum Beispiel die Ehe für alle. Auch dieses Anliegen war schon lang auf dem Tisch; was wiederum zeigt, dass man in diesem politischen System immer dranbleiben, immer weiter für seine Überzeugungen einstehen muss. Doch alles regeln kann die Politik nicht. Es braucht auch den Druck aus der Gesellschaft.

Haben Sie nie die Nerven verloren im Kampf um die Frauenrechte – und im Dialog mit Männern? Ihnen gegenüber sind oft Ressentiments laut geworden: Man nannte Sie stur, unsympathisch, verbissen.
Es gibt vermutlich Leute, die gern gesehen hätten, dass ich die Nerven verliere. Aber auch in brenzligen Situationen bewahre ich die Ruhe. Das braucht es in der Politik. Es geht ja auch nicht um mich, es geht um Lösungen für die Bevölkerung. Und bezüglich der Frauen geht es darum, an den bestehenden Machtverhältnissen zu rütteln. Oder schöner formuliert: Darum, das Land zu gestalten. Dazu sind Gerechtigkeit und Chancengleichheit starke Motive. Sie leiten mich an. Und dann geht es auch darum, Menschen zu finden, die bereit sind, mitzumachen und für ein gemeinsames Ziel zu kämpfen.

Der Frauenanteil im Nationalrat ist in dieser Legislatur um vierzig Prozent gestiegen. Hat sich seither die Mentalität im Parlament verändert?
Es hat ja nicht nur mehr Frauen, sondern erfreulicherweise auch mehr Mütter. Es ist gerade für junge Frauen wichtig zu sehen, dass man als Frau heute politisch erfolgreich und zugleich Mutter sein kann. Aber die Legislatur ist noch jung und hat mit der Pandemie schwierig angefangen. Dennoch bin ich zuversichtlich. Es kommen Themen auf uns zu, die für diese neuen Frauen und Mütter mit ihrem spezifischen Blick auf die Welt und in die Zukunft sehr attraktiv sind: Mobilität, Klimaschutz, Artenvielfalt, die grossen Reformen in der Sozialversicherung. Das betrifft ihr Leben sehr direkt.

Eines der düstersten Themen ist die Gewalt an Frauen. 2019 wurden hierzulande knapp 20 000 Fälle häuslicher Gewalt dokumentiert, gut 6.2 Prozent mehr als im Vorjahr. 24 Frauen wurden getötet. Warum bekommen wir als Gesellschaft dieses Problem nicht in den Griff?
Grundsätzlich gärt die Gewalt an Frauen auf dem gleichen Nährboden, den ich bereits genannt habe: Wenn Frauen nicht länger weniger Lohn bekommen, nur weil sie eine Frau sind, ist auch klar, dass sie gleich viel wert sind wie Männer. Und wenn Frauen und Männer auch dort gleichwertig vertreten sind, wo es um Geld, Macht und Einfluss geht, verändert sich der Umgang miteinander. Das wirkt der Gewalt entgegen. Ein wichtiger Schritt für mich war ausserdem, dass das Parlament die Istanbul-Konvention des Europarats gegen Gewalt an Frauen ratifiziert hat. Damit gab es einen klaren gesellschaftlichen Auftrag, der Gewalt an Frauen wirksam entgegenzutreten. Für mich war zentral, auch die Stellung der Opfer zu stärken. Denn zu oft hatte ich im Frauenhaus gesehen, dass Frauen zwar Anzeige gegen ihren gewalttätigen Ehemann erstatten, sie dann aber wieder zurückziehen, weil sie von der Familie unter Druck gesetzt wurden und man sie dafür verantwortlich machte, dass die Familie auseinanderbreche.

«Landesmutter oder Gouvernante? Ich habe keine Rolle gesucht. Ich bin einfach ich selber geblieben»

Sie haben denn auch Ihre Präsidialspende den Frauenhäusern gegeben, richtig?
Ja, ich habe die 5000 Franken, die jede Bundespräsidentin und jeder Bundespräsident jeweils vergeben darf, den Frauenhäusern gespendet. Gerade im vergangenen Jahr, wo viele auf engem Raum zusammenleben mussten, hat sich die Gefahr, Gewalt zu erleben, für Frauen – und nie zu vergessen: auch für Kinder – verschärft.

2020 waren Sie zum zweiten Mal Bundespräsidentin. War es Ihr schwierigstes, Ihr interessantestes oder einfach nur Ihr schlaflosestes Jahr?
Es war das anspruchsvollste. Wir befanden uns in einer Situation, die niemand in dieser Form voraussehen konnte: Dass die Bundespräsidentin, deren Aufgabe es eigentlich gewesen wäre, ihr Land im Ausland zu repräsentieren, plötzlich in der Schweiz gebraucht wird. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es nie mehr so viele Bundesratssitzungen gegeben wie 2020. Manchmal tagten wir fünf Mal pro Woche. Natürlich lag das Krisenmanagement nicht allein bei mir. Aber im Präsidium laufen die Fäden zusammen. Und meine Aufgabe war es auch, im Hintergrund zu vermitteln. Auch im Bundesrat gab es sehr unterschiedliche Haltungen. Die Herausforderung war, im Lauf der Sitzungen das Gremium so zusammenzubringen, dass am Ende alle sagen konnten: «Doch, dahinter kann ich stehen.»

Haben Sie im letzten Jahr Erkenntnisse gewonnen, die Ihre künftige Politik beeinflussen werden?
Auch mein erstes Präsidialjahr 2015 war kein einfaches; damals standen die Terroranschläge und die Flüchtlingskrise im Zentrum. Aber 2020 war noch intensiver, die Verantwortung und der Zeitdruck waren enorm. Ich habe meine Erfahrung und meine Art, politisch zu arbeiten, so gut gebrauchen können wie nie zuvor.

Das heisst?
Die verschiedenen Akteure, aber auch die Bevölkerung miteinbeziehen, vermitteln, gemeinsam Lösungen suchen. So schafft man Vertrauen. Viele verstehen unter Leadership: «Hey Leute, ich gehe jetzt mal voraus und ihr folgt mir!» Aber in der Schweiz funktioniert das nicht, und eine Pandemie ist auch kein Sololauf.

Sie waren immer dann an den Pressekonferenzen dabei, wenn es ernst wurde. Wie war das für Sie?
Für mich war klar: Wenn wir etwas entschieden haben, das für die Bevölkerung wichtig ist, dann stehe ich hin – selbst wenn es unangenehm ist. Und das war es oft. Mein Ziel war stets, gegenüber der Bevölkerung klar, offen und ehrlich zu kommunizieren.

Das klingt nun arg nach Landesmutter. Empfinden Sie diese Bezeichnung als beleidigend?
Vor Kurzem hat mich jemand gefragt, als was ich mich nach diesem Jahr bezeichnen würde: als Landesmutter oder Gouvernante? Ich antwortete: «Ich habe keine Rolle gesucht. Ich bin einfach ich selber geblieben.» Die Leute, die mich kennen, wissen, dass es mir immer ein Anliegen gewesen ist, Nähe und Menschlichkeit zu bewahren. Aber auch, dass ich sehr hartnäckig sein kann, wenn es sein muss. (lacht)

Blicken wir noch kurz nach vorn: Wir sind mitten in der Pandemie, Menschenrechte und demokratische Prozesse werden zunehmend verhandelbar, die Flüchtlingsströme reissen nicht ab, immer stärker werden die Auswirkungen des Klimawandels spürbar. Was braucht es, um die Gesellschaft so zu stärken, dass sie für all diese grossen Herausforderungen fit wird?
Es braucht Persönlichkeiten in der Politik und in der Wirtschaft, die über den Tag hinausdenken und unabhängig sind. Leute, die sich fragen: Was ist für die Schweiz richtig und wichtig? Ich habe Mitte Jahr Vertreterinnen und Vertreter aus der Wirtschaft und der Wissenschaft eingeladen, um darüber zu diskutieren: In welchen Bereichen ist das Land stark? Wo haben wir unser ganz grosses Potenzial? Wo können wir den Menschen wieder eine Perspektive geben?

Was ist herausgekommen?
Zwei Megathemen helfen uns dabei, unsere Zukunft erfolgreich zu gestalten und ein soziales, umweltfreundliches und wohlhabendes Land zu bewahren: die Digitalisierung und der Klimaschutz. Die Zeit ist reif, um in der Mobilität neue Standards zu setzen und in erneuerbare Energien zu investieren. Soll die Schweiz im Jahr 2050 CO2 -neutral sein, müssen wir jetzt die Weichen stellen und vorausdenken: Die Kinder, die heute geboren werden, sind 2050 dreissig Jahre alt, stehen dann also noch ziemlich am Anfang ihres Lebens. Für sie tragen wir Verantwortung. Und zwar bereits heute.

Eines unsere Learnings aus der Pandemie ist: Wenn der Druck gross genug ist, sind plötzlich Dinge möglich, die man zuvor für unmöglich gehalten hat. Stichwort: Flugverkehr, Digitalisierung, Homeoffice. Ist dies auch für Sie eine Blaupause für Veränderungen?
Es ist für mich keine neue Erkenntnis, dass oft mehr möglich ist, als man denkt. Im Gespräch mit Wirtschaftsvertretern höre ich gerade in Bezug auf die Klimakrise immer wieder: «Okay, wir haben momentan eine schwierige Situation, aber wir nutzen sie, um in den Bereichen Umwelt und Klima besser aufgestellt zu sein.» Dies stimmt mich zuversichtlich.

Haben Sie ein Herzensanliegen, das Sie im Frauenjahr 2021 gern umsetzen würden?
Ja, das habe ich tatsächlich. Ich habe letztes Jahr am 8. März, dem internationalen Frauentag, alle 350 Gemeindepräsidentinnen der Schweiz eingeladen und auch jene der angrenzenden Gemeinden in Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien, Liechtenstein. Aber ich musste den Anlass wegen der Pandemie verschieben. Das hat mir so leidgetan, dass ich allen Frauen Blumensamen geschickt habe. Ich würde diesen Anlass gern nachholen. Gemeindepräsidentinnen sind unser Fundament, sie bewirken sehr viel Gutes, und das wirkt sich positiv auf das ganze Land aus – doch das wird gern übersehen. In dieser Krise managen sie unter schwierigsten Bedingungen ihre Gemeinde. Sie kümmern sich darum, wie es den Menschen geht, den Bewohnerinnen in den Altersheimen oder den Kindern in Familien, die eine kleine Wohnung ohne Balkon haben. Es sind die Frauen, die wirklich einfach für die Bevölkerung da sind. Das möchte ich sichtbar machen.

Dieser Interview erschien in der annabelle-Ausgabe vom 22. Januar 2021.

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