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Wie sich die Erwartungen an Schwangere verändert haben

Zeitgeist

Wie sich die Erwartungen an Schwangere verändert haben

  • Interview: Melanie Keim, Bild: Unsplash

Als Mutter will man alles richtig machen – sogar schon vor der Geburt. Die Historikerin Caroline Arni erklärt, wie sich die Erwartungen an Schwangere über die Jahrhunderte verändert haben. Und plädiert für mehr Zuversicht.

annabelle: Caroline Arni, während Sie über die Geschichte des Ungeborenen forschten, wurden Sie selbst zwei Mal Mutter. Hat die wissenschaftliche Arbeit einen Einfluss darauf gehabt, wie Sie Ihre eigenen Schwangerschaften erlebten? Oder nervt Sie diese Frage, weil man sie einem männlichen Forscher nie so stellen würde?
Caroline Arni: Mittlerweile sehe ich es entspannter, dass man solche persönlichen Fragen eher Frauen stellt – und bei ganz bestimmten Themen. Ich finde: Okay, dann sprechen wir darüber, was die Forschung mit uns selbst zu tun hat. Indem ich die historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge erforschte, konnte ich mich tatsächlich besser von all den heutigen Erwartungen und Anforderungen an Schwangere distanzieren. Und mir half die Arbeit am Buch auch, zu fragen, was Schwangerschaft für mich überhaupt bedeutet.

Und, wie lautet Ihre Erkenntnis?
Ich finde, Schwangerschaft ist ein grosses Privileg – und nicht primär eine Zeit der Gefahr und des Risikos, so wie das heute oft dargestellt wird. Die Schwangerschaft ist eine Zeit, die mich herangeführt hat zu meinen Kindern. Ich muss allerdings dazu sagen, dass ich in Paris forschte, als ich zum ersten Mal schwanger war. Dort hat die Schwangere ohnehin einen ganz anderen Status als bei uns in der Schweiz.

Inwiefern?
In einer vollgestopften Pariser Metro setzt sich alles in Bewegung, damit man als Schwangere sitzen kann. Man muss nirgendwo anstehen, auf der Strasse sehen einem die Leute auf den Bauch und lächeln einem zu. Bei uns sind Kinder Teil der Familie, in Frankreich sind sie Teil der Gesellschaft; schaut her, da kommt ein neuer kleiner citoyen. In Paris habe ich auch gelernt, dass es nicht übergriffig sein muss, wenn einem eine fremde alte Frau plötzlich die Hand auf den Bauch legt. Man kann es auch als erste Kontaktaufnahme verstehen mit dem Menschen, der da bald kommen wird. Auch in Ratschlägen an die Schwangere kann eine Art der Anteilnahme stecken: dass sich andere auch mitverantwortlich fühlen für dieses Kind. Aber es fällt mir immer schwer, dies meinen feministischen Freundinnen zu vermitteln.

An Ratschlägen für Schwangere mangelt es heute ja nicht. In Ihrem Buch beschreiben Sie uralte Verhaltensregeln für Schwangere. Wie haben sich diese verändert?
Heute wird wieder stark thematisiert, wie die Erfahrungen und die Lebensführung der schwangeren Frau das Kind in ihrem Bauch prägen. Dies ist eine uralte Vorstellung und sie tritt immer mal wieder in der Vordergrund und wieder zurück. In der Antike war man überzeugt, dass das, was eine schwangere Frau sieht, verbunden mit einer heftigen Emotion, die Gestalt des Kindes prägt. So sollten beispielsweise Schwangere schöne Statuen anschauen, weil das schöne Kinder gibt. Im Gegenzug sollten sie nicht an Beerdigungen gehen, weil das melancholische Kinder gibt.

Gleiches schafft Gleiches …
Genau, das ist die Idee der antiken Impressionslehre. Glich ein Neugeborenes dem Nachbarn statt dem Ehemann, so konnte man dies dadurch erklären, dass der Nachbar die Schwangere heftig erschreckt hatte. In Gerichtsprozessen war dies eine durchaus legitime Erklärung. Man stellte sich Mutter und Kind als Einheit vor, wobei sich das Erleben der Mutter wie bei einem Wachsabdruck direkt auf das Kind überträgt. Im 19. Jahrhundert hingegen – und dort setzt meine eigent- liche Forschung an – gilt das Ungeborene als eigener Organismus. Das Kind ist nicht plötzlich da, nun entwickelt es sich. Es wird. Und was sich entwickelt, kann ich beeinflussen. Ich kann also heute bewusst etwas tun, damit die Zukunft anders aussieht. Damit kam im 19. Jahrhundert auch die Idee der sogenannten Volkshygiene auf. Denn auch ein Volkskörper konnte nun gesund oder krank, stark oder schwach sein. Damit wurde die Schwangerschaft und mit ihr die schwangere Frau natürlich zum Politikum.

«Heute liegt alles in der Verantwortung der Frau. Sie muss schauen, dass sie das Richtige isst und nicht das Falsche trinkt»

Was veränderte sich damit konkret im Umgang mit Schwangeren?
Die Erkenntnis, dass sich das Verhalten der Frau positiv oder negativ auf das Kind auswirkt, lässt unterschiedliche Folgerungen zu. Man kann daraus schliessen: Wir als Gesellschaft müssen den Frauen Sorge tragen, ihnen geben, was sie verlangen, und sie mit schönen Dingen umgeben; das ist die antike Variante. Die moderne hingegen lautet: Die Frauen müssen zu sich und dem Kind selbst Sorge tragen und ihre Lebensführung entsprechend anpassen. Heute liegt alles in der Verantwortung der Frau. Sie muss schauen, dass sie das Richtige isst und nicht das Falsche trinkt. Irgendwann kam zum Optimierungsgedanken nämlich noch die Vorstellung dazu, dass man als Frau alles im Griff haben kann. Dies im Gegensatz zur alten Vorstellung, dass es in der Schwangerschaft Zuversicht braucht.

Wenn heute noch etwas passiert, trotz all der technologischen und medizinischen Unterstützung, dann ist garantiert die Mutter schuld.
Genau. Meine Tochter hatte mit drei Wochen starkes Fieber wegen einer Nierenentzündung. Im Spital war meine erste Reaktion: «Was habe ich falsch gemacht?» Die Ärztin sagte zu mir: «Erstens: Die Mutter ist nicht schuld. Zweitens: Die Mutter ist nicht schuld. Drittens: Die Mutter ist nicht schuld.» Auch wenn diese Schuldzuschreibungen also nicht so absolut sind, so war es doch bezeichnend, dass ich den Fehler sofort bei mir suchte, obwohl es an einer nicht vollständig entwickelten Klappe zwischen Blase und Niere lag.

Mit wachsendem medizinischem Wissen und neuen technischen Möglichkeiten wie dem Ultraschall konnte der Fötus immer besser überwacht werden. Führte dies auch zu einem stärkeren Kontrollbedürfnis und zu mehr Vorsicht während der Schwangerschaft?
Die Entwicklung verläuft grundsätzlich nicht so linear. Das 19. Jahrhundert war beispielsweise stark von Milieutheorien beeinf lusst: So wie in den Städten die schlechten sanitären Zustände die Gesundheit der Menschen prägen, so wird auch das Ungeborene von seinem Milieu geprägt – und sein Milieu ist die schwangere Frau. Im 20. Jahrhundert kam dann die Genetik auf und da spielten die Umwelt und das Verhalten der Mutter plötzlich wieder eine untergeordnete Rolle.

Wenn alles genetisch programmiert schien, entfiel da die Verantwortung der Schwangeren?
Nein, denn nun lautete die Frage, was gutes beziehungsweise schlechtes Erbgut ist, also mit wem man sich paaren darf. Es wurde also einfach anders optimiert. Zu jener Zeit wurden auch in der Schweiz Frauen, die nicht der Norm entsprachen, zwangssterilisiert. Mitte des 21. Jahrhunderts jedoch trat dann die Milieufrage wieder stärker in den Vordergrund.

Was führte zu diesem erneuten Umdenken?
Im Zuge des Zweiten Weltkriegs stellte sich die Frage, ob sich die traumatischen Erlebnisse des Krieges auf die kommenden Generationen auswirken würden. Im Zusammenhang mit Holocaust-Opfern wurde beispielsweise erforscht, ob und wie sich Erfahrungen im Erbgut ablagern. Da sind wir dann bei der Epigenetik angelangt, die untersucht, wie äussere Einflüsse das Erbgut verändern. Und diese Vorstellung wiederum ist gar nicht so weit entfernt von der antiken Idee, dass man nach einer Beerdigung kein Kind zeugen soll, weil das Erlebte ein melancholisches Kind produziert.

Sie weisen in Ihrem Buch auf die heutige Flut an Schwangerschaftsratgebern hin. In diesen werden Schwangere zum Teil richtiggehend überschwemmt mit Verboten und Warnungen. Wird es eigentlich immer enger für Schwangere?
Als Historikerin denke ich nicht gern in solchen Steigerungslogiken, aber man kann schon von einem zunehmenden Optimierungswahn sprechen. Wir tun uns zunehmend schwer mit der fatalistischen Vorstellung, dass uns eben auch heute noch Dinge widerfahren, die wir nicht kontrollieren können. Letztlich ist jede Schwangerschaft ein Schritt ins Ungewisse. Wenn man als Eltern nicht annehmen kann, dass da ein Mensch kommt, den man nicht am Reissbrett zeichnen kann, leidet man ein Leben lang.

Gleichzeitig ist es doch auch verständlich, dass man sich bestmöglich informieren will?
Klar ist es gut zu wissen, dass beispielsweise die Plazenta keine absolute, undurchdringliche Schranke zwischen Mutter und Fötus bildet. Doch zum Teil wird in diesem Zusammenhang wirklich Schindluderei betrieben. Ein Beispiel: Aus einer Langzeitstudie zu Jugendkriminalität wurde an einer Pressekonferenz einmal herausgegriffen, dass es einen minimen Zusammenhang zwischen dem Rauchen in der Schwangerschaft und späterer Kriminalität des Kindes gibt. Am anderen Tag stand in der Presse: «Rauchen während der Schwangerschaft führt zu Jugendkriminalität.» Da wurde ein Kausalzusammenhang hergestellt, wo keiner war. Das ist nicht nur unwissenschaftlich, das ist vor allem auch gemein den Frauen gegenüber.

Sie plädieren für mehr Zuversicht statt noch mehr Kontrolle. Aber gibt es einen Weg dorthin zurück?
Ich weiss es nicht. Manchmal denke ich, dass die Forschung an einem Punkt angelangt ist, wo alles dermassen kompliziert ist, dass man gar nicht mehr weiss, wo man mit Regulieren überhaupt noch ansetzen soll. Ein Beispiel ist der Stress: Zu viel Stress ist nicht gut für das Ungeborene, zu wenig aber auch nicht, weil ein bisschen Stress offenbar zu Resilienzen beim Kind führt. Könnte diese Komplexität vielleicht den Effekt haben, dass man als Mutter irgendwann sagt: So, jetzt schaue ich einfach, dass es mir selber gut geht? Schön wärs.

Dank In-vitro-Fertilisation oder Social Freezing kön- nen Schwangerschaften heute noch gezielter geplant werden. Bringt das den Frauen mehr Selbstbestimmung?
Social Freezing oder in vitro hängen mit ökonomischen Erwägungen zusammen: Die Frau soll möglichst produktiv sein und dafür die eigene Schwangerschaft hinauszögern. In den 1990er-Jahren gab es deshalb auch eine feministische Kritik an diesen Formen der Reproduktionsmedizin, weil sie den weiblichen Körper instrumentalisierten. Dieser sogenannte Ökofeminismus ist heute wieder aus dem Blickfeld geraten: Die Frauen haben jetzt ja die Wahl, können arbeiten und dann später noch ein Kind bekommen, wenn sie dann wollen. Aus feministischer Perspektive ist es jedoch absurd zu glauben, dass wir Frauen wirklich eine Wahl haben, wenn diese stets beurteilt wird und mit ökonomischer Abschöpfung und Optimierung verschränkt wird.

Mehr Wahl heisst nicht mehr Selbstbestimmung?
Mehr Wahl heisst vor allem nicht mehr Freiheit.

Um die «richtige» Schwangerschaft und die «richtige» Geburt werden heute harte Kämpfe geführt. Der geplante Kaiserschnitt wird genauso heftig kritisiert wie die Entbindung im Geburtshaus. Sollten wir vielleicht besser überhaupt damit aufhören, so viel über Schwangerschaft und Geburt zu sprechen?
Ich weiss nicht, ob es eine Lösung ist, einfach nicht darüber zu sprechen, oder ob wir dem nicht besser eine andere Art von Diskussion entgegenhalten sollten. Es braucht heute Ärztinnen, Hebammen, Frauen, die sagen: Schwangerschaft ist ein Geschehen im Körper einer Frau. Sie darf über diesen bestimmen, ihr Körpergefühl und ihre Intuition zählen auch. Das sind alles Dinge, die in der modernen Wissenschaft abgewertet wurden, weil sie nicht objektivierbar und nicht reproduzierbar sind.

Sie forschen auch zur Geschichte des Feminismus. Wann beginnt der feministische Diskurs über Schwangerschaft?
Im Moment beschäftige ich mich mit französischen Arbeiterinnen in den 1830er-Jahren, ich stecke also in der ganz frühen Phase des Feminismus. Diese Arbeiterinnen sehen Schwangerschaft als Werk, das Frauen vollbringen. Für diese produktive Tätigkeit fordern sie eine Rente während und nach der Schwangerschaft. Sie fordern auch, dass das Kind den Namen der Mutter trägt, weil sie es gemacht und dafür ihr Leben riskiert hat. Diese Idee des Werks wurde allerdings später von Feministinnen zurückgewiesen, als Reaktion darauf, dass Frauen im 19. und 20. Jahrhundert auf Mutterschaft reduziert wurden.

«Die feministische Devise müsste lauten: Frauen können alles, und Frauen können machen, was sie wollen»

Auch heute gibt es feministische Stimmen, die finden, dass weibliche Emanzipation nicht mit Muttersein vereinbar sei. Was halten Sie von dieser Position?
Die Reduktion der Frau aufs Mutterdasein führte zu Recht zu einer Ablehnung von Mutterschaft und zur Haltung, dass Emanzipation nicht über Mutterschaft führt. Es hat uns aber nicht viel gebracht, so zu tun, als wäre das Mutterwerden etwas, das man als Frau quasi nebenbei noch so macht. Heute muss man während der Schwangerschaft alles richtig machen, gleichzeitig bekommt man zu hören, dass man bitte schön nicht so tun soll, als wäre Schwangerschaft eine Krankheit, und man sollte am besten bis zum Tag der Geburt arbeiten. Meine Generation war noch stark von der Vorstellung geprägt, dass der Königsweg der Emanzipation über die Erwerbstätigkeit führt. Momentan rücken wieder andere Positionen in den Vordergrund.

Gibt es diese Kehrtwende, weil die Rechnung nicht aufgegangen ist, oder weil traditionelle Werte wie Ehe und Familie wieder an Bedeutung gewonnen haben?
Schwangerschaft, Mutterschaft, Elternschaft und auch Hausarbeit sind weder konservativ noch progressiv. Das sind alles schlicht sinnvolle Dinge, die Menschen machen. Das Problem ist, dass diese Tätigkeiten in unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung nicht geschätzt werden. Sie gelten nicht als wertschöpfend, obwohl die ganze Wirtschaft auf ihnen beruht. In den 1990er-Jahren war die gängige feministische Vorstellung: Frauen können dasselbe machen wie Männer. Doch die feministische Devise müsste lauten: Frauen können alles, und Frauen können machen, was sie wollen. Die Frage ist nicht, ob Frauen und Männer dasselbe machen sollen. Es geht darum, aufzuwerten, was nur Frauen machen: Schwangerschaft und Gebären. Und das, was vorwiegend Frauen machen: Care-Arbeit.

Am Frauenstreik war Care-Arbeit ein grosses Thema.
Ja. Und auch wenn wir an der Universität eine Veranstaltung zu Hausarbeit durchführen, rennen uns die Frauen die Bude ein. Diese Fragen haben mich und meine Generation nun wirklich nicht interessiert. Unsere Vorstellung war, dass wir die Hausarbeit 50/50 mit unseren künftigen Partnern aufteilen werden. Und was tun mein Mann und ich: Wir teilen uns diejenige Arbeit auf, die nach der Arbeit von anderen Frauen übrigbleibt. Das muss die Frauenbewegung heute konfrontieren.

Wie haben Sie den Frauenstreik im vergangenen Jahr erlebt?
Der Frauenstreik zeigte, welche Kraft entsteht, wenn sich Frauen über ihre Verschiedenartigkeit hinweg auf einander beziehen. Die Hausfrau und ich: Der Frauenstreik war für uns beide. Für Hausfrauen in meinem Quartier ist es oft eine Überraschung, dass ich sie für ihren Lebensentscheid überhaupt nicht verurteile. Manchmal finde ich sogar am meisten Gemeinsamkeit mit just diesen Frauen, die ihren Job aufgegeben haben. Wir beide müssen uns ständig rechtfertigen. Dabei kann es auch emanzipativ sein, zu sagen: Ich lasse mich doch nicht auspressen wie eine Zitrone.

Am Frauenstreik wurde mit «Viva la Vulva» auch der Frauenkörper gefeiert. Überhaupt taucht die Vulva seither überall wieder auf. Wieso wird der Körper der Frau jetzt wieder politisch?
Mich überrascht, mit welcher Wucht der Körper zurück im Diskurs ist, wie er wieder Ausgangspunkt und Gegenstand von Politisierung ist. Als Historikerin lese ich das als Dokument von Erfahrung: Wenn viele Frauen das Gefühl haben, sie müssen jetzt über diese Vulva sprechen und diese zu einem Gegenstand machen, dann weil sie eine Tabuisierung und eine Herabsetzung erfahren haben und darauf reagieren. Weibliche Sexualität und weibliches Begehren sind keine Selbstverständlichkeit. Am Morgen des Frauenstreiks war ich mit meiner Tochter in Basel. Meine Studentinnen haben vor der Uni kleine Vulven genäht. Ich dachte: Wow! Interessant! Meine Generation wollte diesen Körper ja noch dekonstruieren. Vulven zu zeichnen lag uns wirklich to-tal fern. Insofern hatte ich wirklich nicht damit gerechnet, aber es hat mich beeindruckt und bewegt.