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Zürcher Unternehmerin Rosmarie Michel: «Ich wirke ungefährlich, bis ich den Mund aufmache»

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Zürcher Unternehmerin Rosmarie Michel: «Ich wirke ungefährlich, bis ich den Mund aufmache»

Rosmarie Michel fasste frühzeitig den Entschluss, Unternehmerin zu werden – letztes Jahr wurde sie für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Im Interview erzählt die neunzigjährige Zürcher Patronne, wie wichtig Frauennetzwerke sind – und warum sie sich nicht Feministin nennt.

«Ich bin eher klein gewachsen, nicht bedrohlich, wirke bürgerlich und ungefährlich, bis ich das erste Mal meinen Mund aufmache», pflegt Rosmarie Michel über sich zu sagen. 1991, im Alter von sechzig Jahren, wurde sie als einzige Frau in den Verwaltungsrat der Credit Suisse gewählt und amtete zudem als stellvertretende Vorsitzende der renommierten New Yorker Non- Profit-Organisation «Women’s World Banking». Heute ist sie neunzig Jahre alt, hellwach, humorvoll, erfrischend direkt und gleichzeitig darauf bedacht, vornehme Distanz zu wahren.

In aufrechter Haltung erwartet sie mich zum Gespräch vor dem Restaurant des Hotels Zürichberg, von dem aus man einen prachtvollen Blick über die Stadt geniesst. Rosmarie Michel hat diesen Treffpunkt gewählt, weil er eng mit ihrer Geschäftstätigkeit verknüpft ist. Das Hotel gehört zur ZFVGastronomiegruppe, jenem Unternehmen, in dem sie einst auch im Verwaltungsrat sass und an das sie ihr Lebenswerk verkaufte, die traditionsreiche Confiserie Schurter am Zürcher Central. Bis 2006 führte sie diese in vierter Generation.

«Meine Confiserie in verlässlichen Händen zu wissen, verleiht mir ein Gefühl der inneren Ruhe», sagt sie. Mit gutem Grund: Die besagte Gruppe war gegen Ende des 19. Jahrhunderts von visionären Zürcher Bürgersfrauen als «Frauenverein für Mässigkeit und Volkswohl» gegründet worden, unter anderem mit dem Ziel, die Stellung der Frau in den gastgewerblichen Berufen zu verbessern.

Ein Thema, das sich später wie ein roter Faden auch durch Rosmarie Michels Biografie hindurchziehen sollte. Wer die Patronne näher kennt, weiss zudem, dass sie auf dem Zürichberg öfter ihre Gedanken sortiert, manchmal sogar noch Geschäftstermine wahrnimmt, seltene Schmetterlingsarten beobachtet und immer wieder gern ihr abwechslungsreiches Leben Revue passieren lässt.

annabelle: Rosmarie Michel, blicken wir in die 1930er-Jahre zurück. Ihre Eltern waren beide berufstätig, was zu jener Zeit doch eher unüblich war. Inwiefern hat Sie diese moderne Lebensweise geprägt?
Rosmarie Michel: Mein Bruder und ich haben schon früh gewusst, dass unser Haus nicht als Kinderspielplatz dient, sondern mit Pflichten verbunden ist. Meine Mutter führte die Confiserie Schurter, die seit 1869 ihrer Familie gehörte, und half abends noch bei Banketten aus, während mein Vater für das Restaurant Haus zum Rüden zuständig war. Diese Rollenaufteilung führte dazu, dass die Gleichberechtigung in unserem Haus aktiv gelebt wurde. Bereits im Alter von 18 Jahren habe ich zudem meine Mutter in der Confiserie vertreten. Später besuchte ich die Hotelfachschule in Lausanne und erhielt zudem die Möglichkeit, Französisch zu lernen.

Ihre Mutter gehörte in der damaligen Zeit zu den wenigen berufstätigen Frauen. Wie reagierte das nähere Umfeld darauf?
Die Berufstätigkeit meiner Mutter wurde von niemandem infrage gestellt, da sie die Confiserie in dritter Generation übernommen und mit in die Ehe gebracht hatte. Meine Eltern waren beruf lich stark eingespannt, doch konnten sie sich auf treue Mitarbeiter: innen verlassen. Einige haben sogar in unserem Haus gewohnt. Mein Kindermädchen ging erst an meinem zwanzigsten Geburtstag in Pension, und so lässt sich durchaus sagen, dass wir eine eingeschworene Gemeinschaft waren. Trotz hohem Arbeitspensum wurde die Familienzeit in den Alltag eingebaut. Dabei denke ich an gemeinsame Ferien oder Theater- und Konzertbesuche.

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«Ich wollte schon immer entweder Unternehmerin oder Mutter von zwölf Kindern werden»

Wann ist Ihnen klar geworden, dass Sie in die elterlichen Fussstapfen treten würden?
Bereits in der Primarschule schien meine Zukunft konkretere Formen anzunehmen. Der Lehrer wollte von uns wissen, wie wir uns das weitere Leben vorstellen, und liess uns darüber einen Aufsatz schreiben. Ich hielt fest, dass ich entweder Unternehmerin werden oder eine Familie mit zwölf Kindern gründen möchte. Hierfür erhielt ich in der vierten Primarklasse zum ersten und einzigen Mal die Note sechs. Eigene Kinder haben sich leider nicht ergeben, und so habe ich mich für die Geschäftswelt entschieden.

Wäre Ihre Karriere mit Kindern überhaupt möglich gewesen?
Lassen Sie es mich so sagen: Eine Mutterschaft hätte sicher eine grosse Herausforderung bedeutet. Ich bin aber nicht kinderlos geblieben. Als meine Schwägerin im Alter von fünfzig Jahren verstarb, bekam ich unverhofft eine Familie geschenkt. Ich habe ihre Kinder im Teenageralter sozusagen «geerbt», mich um sie gekümmert und sie auf ihrem schulischen und beruflichen Weg begleitet. Meine Nichte lebt noch immer in meinem fünfhundert Jahre alten Haus am Zürcher Central, was mich sehr freut. Ausserdem bin ich Gotte von sechs Kindern. Den Generationenaustausch schätze ich sehr.

Sie haben die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit miterlebt. Welche Spuren hat dies bei Ihnen hinterlassen?
Ich habe gelernt, Grenzen zu akzeptieren, sparsam zu leben und vor allem sorgsam mit Ressourcen umzugehen. So war es zum Beispiel selbstverständlich, keine Essensreste fortzuwerfen und das Licht zu löschen, wenn man das Zimmer verlässt. Darauf weise ich auch heute noch hin. Der heutige Egoismus bereitet mir zuweilen etwas Mühe.

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«Ist es immer nötig, ein Flugzeug zu besteigen? Ich wünsche mir mehr Eigenverantwortung in Bezug auf die Umwelt»

Wie meinen Sie das?
Ich habe den Eindruck, dass die Solidarität in unserer Gesellschaft ein Stück weit verloren gegangen ist. Das liegt wohl daran, dass die letzten drei Generationen kaum mit Einschränkungen leben mussten. Früher gab es mehr grössere Familien und Haushalte, was automatisch mit einer erheblichen Verantwortung verbunden war. Alle mussten mit anpacken. Ich denke, wir sollten unseren Wohlstand wieder vermehrt schätzen lernen, denn fliessendes Wasser ist nicht selbstverständlich. Zudem wünsche ich mir mehr Eigenverantwortung in Bezug auf die Umwelt: Ist es zum Beispiel tatsächlich immer nötig, ein Flugzeug zu besteigen? Mir liegt viel daran, diese Frage mit jungen Menschen regelmässig zu diskutieren.

Ein anderes Thema: Weibliche Netzwerke sind heute sehr wichtig. Welchen Stellenwert nahmen diese seinerzeit in Ihrem Leben ein?
Ich würde Ihnen kaum gegenübersitzen, wenn meine Mentorin Elisabeth Feller nicht gewesen wäre. Sie wurde 1910 geboren, war Unternehmerin und setzte sich als Mitbegründerin und erste Präsidentin des Schweizerischen Verbands der Berufs- und Geschäftsfrauen für bessere Chancen für Frauen in der Wirtschaft ein. Ich verdanke ihr mein erstes Präsidium beim Verein Ehemalige Töchterschülerinnen, das ich bereits im Alter von dreissig Jahren übernehmen durfte. Es ging darum, die Beziehungen zwischen der Zürcher Kantonsschule und den ehemaligen Schülerinnen zu pflegen – unter anderem in Form von verschiedenen Veranstaltungen. Zudem hat mir mein Amt als internationale Präsidentin des Verbands Business Professional Women, BPW, geholfen, in Verwaltungsräte gewählt zu werden. Die Geschichte des BPW ist eng mit dem Kampf für das Frauenstimmrecht verbunden, und er fördert die Gleichberechtigung im Berufsleben.

Sie haben sich allerdings nie aktiv um Ihre zahlreichen Ämter bemüht. Hatten Sie einfach nur Glück?
Ich bin wohl in der richtigen Zeit geboren worden und habe Aufgaben übernehmen dürfen, die einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden sind. Hilfreich war sicherlich, dass ich es gewohnt war, zu entscheiden. Einst habe ich mit einem Mathematikstudium geliebäugelt, stellte dann aber fest, dass ich ein Machertyp bin, der klare Strukturen bevorzugt. Ich kann übrigens immer noch gut kopfrechnen. Das hilft mir auch, um geistig wach zu bleiben.

Apropos klare Gedanken: Wie trifft man die richtigen Entscheidungen?
Indem man sich die Zeit nimmt, sich zu informieren und das direkte Gespräch zu suchen, bevor man entscheidet. Meine langjährigen Verwaltungsratsmandate waren alle wohlüberlegt. Als ich angefragt wurde, Verwaltungsrätin bei der damaligen Volksbank zu werden, bat ich den Präsidenten in mein Büro, damit er mich über die anstehenden Geschäfte orientierte. Ich war der Meinung, dass meine Qualitäten nicht im Bereich Banking lagen, und habe letztlich nur zugesagt, weil ich die Übernahme der Mitarbeiter:innen durch die heutige Credit Suisse sichern wollte. Anlässlich einer Statutenrevision bei den ZFV-Betrieben haben wir festgelegt, dass Männer in den Verwaltungsrat wählbar sind, aber das Präsidium bleibt weiblich.

«Manchmal entpuppt sich mancher in den Weg gelegter Stein als ein Juwel»

Hegten Sie nie Selbstzweifel?
Nein. Die Verantwortung wurde mir von kompetenten Leuten übertragen, deren Urteilsfähigkeit ich akzeptierte. Es blieb damals keinerlei Zeit, darüber nachzudenken, ob man zu etwas fähig ist oder nicht. Und manchmal ist es auch so, dass mancher Stein, den uns das Leben in den Weg legt, sich beim Zupacken als Juwel entpuppt.

Welche Eigenschaften halfen, sich im Geschäftsleben zu behaupten?
Vertrauen, Bescheidenheit und Humor. Auf diese Weise lässt sich nahezu mit allen Personen kommunizieren. Ich bin zudem eine Ur-Zürcherin und vergesse nie, welch wichtige Rolle der Theologe und Reformator Huldrych Zwingli in meiner Erziehung gespielt hat.

Inwiefern hat er Sie beeinflusst?
Er hat mir gezeigt, dass man arbeiten und Gutes tun sollte. Dieser Leitgedanke ist tief in mir verankert. Ich gehörte nie zu den benachteiligten Menschen, habe jedoch nicht vergessen, dass es auch Menschen gibt, die keine Privilegien geniessen. Das heisst, man muss Rücksicht auf seine Mitmenschen nehmen und helfen, wo Not am Mann oder an der Frau ist. Mein Gerechtigkeitssinn ist stark ausgeprägt. Auch habe ich stets den Standpunkt vertreten, dass Frauen ihre Chancen nutzen sollten, und zwar unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Status. Bei der Non-Profit-Organisation Women’s World Banking, die Mikrokredite vergibt, habe ich mich ganz besonders für die Gleichstellung von Frauen in sogenannten Entwicklungsländern eingesetzt. Ein kleiner finanzieller Vertrauensvorschuss vermochte so manches Leben zu verändern.

«Wenn einem eine Aufgabe übertragen wird, heisst das auch, dass diese durchaus zumutbar ist»

Frauen stellen sich öfter die Frage, ob sie einer Aufgabe tatsächlich gewachsen sind. Wie denken Sie darüber?
Ich kann nur den Kopf schütteln, wenn meine Geschlechtsgenossinnen zögern, und dies aus einem einfachen Grund: Die Allgemeinheit investiert in uns, was sich auch anhand von Zahlen feststellen lässt. Dazu gehören Ausbildungskosten und Infrastruktur. Diese Investitionen gilt es zurückzuzahlen. Man lehnt sich also nicht einfach zurück und sagt: «Ich bin dazu nicht in der Lage.» Wenn einem eine Aufgabe übertragen wird, heisst das auch, dass diese durchaus zumutbar ist.

Frauen in Führungspositionen stellen jedoch noch immer eine Minderheit dar – obwohl diese heute so gut ausgebildet sind wie nie zuvor. Wie lässt sich diese Schieflage korrigieren?
Die Situation hat sich bereits stark verbessert, aber gleichzeitig ist die Konkurrenz grösser geworden. Grundsätzlich bin ich gegen ständiges Klagen. Vielmehr habe ich für etwas gekämpft und nicht gegen etwas. Frauen sind anders als Männer, und diese Unterschiede sollten auch akzeptiert werden. Das «starke Geschlecht» hat vor allem das Ziel im Blick, während Frauen eher Wege suchen.

Mit diesem Thema beschäftigen Sie sich immer noch. Vor einigen Jahren haben Sie zusammen mit Ihrer inzwischen verstorbenen Geschäftspartnerin, der Trendspezialistin und Wirtschaftsethikerin Monique Siegel, die Plattform Female Shift gegründet. Können Sie diesen Begriff erläutern?
Female Shift bezeichnet einen Megatrend: Die Zukunft wird zunehmend weiblich sein: 51 Prozent der Weltbevölkerung sind Frauen. Weltweit haben diese ihre männlichen Zeitgenossen in Bezug auf Bildung hinter sich gelassen. Der Think Tank Female Shift will den Geschlechterkampf aber nicht befeuern, sondern beenden und zielt darauf hin, dass Frauen und Männer auf Augenhöhe zusammenarbeiten.

«Es muss allen klar sein, dass Probleme nicht nur von einem Geschlecht gelöst werden können»

Weshalb sprechen Sie sich gegen eine Frauenquote aus?
Grundsätzlich bevorzuge ich die organische Integration der Frau ins Berufsleben. Starre Forderungen erzeugen oft eine Gegenbewegung. In erster Linie sind Firmen gefragt, die Lösungen erarbeiten und unter anderem die Frage stellen, wie es gelingen kann, Frauen den Einstieg in die Wirtschaft zu ermöglichen. Gerade Männer sind hier in der Pflicht: Sie müssen mithelfen, Frauen in sämtliche Projekte miteinzubeziehen. Es muss allen klar sein, dass Probleme nicht nur von einem Geschlecht gelöst werden können. Die Pandemie hat zudem gezeigt, dass die Menschen voneinander abhängig sind, und deshalb ist Kooperation das Schlüsselwort der Zukunft.

Sie engagieren sich für Frauen, bezeichnen sich aber dennoch nicht als Feministin. Weshalb?
Ich bin weder für Frauenrechte auf die Strasse gegangen, noch war ich Mitglied einer bestimmten Frauenrechtsorganisation. Vielmehr bezeichne ich mich als pragmatische Frauenrechtlerin, die gut vernetzt ist. Ich pflege Kontakte zu Menschen aus allen sozialen Schichten. Arbeiterinnen und Unternehmerinnen in Ghana oder Buenos Aires gehören ebenso dazu wie eine Begegnung mit der Maori-Königin oder ein Frühstück mit Hillary Clinton.

Rosmarie Michel wurde am 16. August 1931 in Zürich geboren. 1956 wurde sie Mitglied der Geschäftsleitung der familieneigenen Confiserie Schurter. Sie war Präsidentin der International Federation of Business and Professional Women (BPW) und übernahm diverse Verwaltungsratsmandate, unter anderem bei den ZFV-Unternehmungen, bei Valora, Bon Appétit und der Credit Suisse. Im September letzten Jahres wurde ihr am Swiss Economic Forum der SEG Women Award für ihr Lebenswerk verliehen.

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sandra

Was für eine bemerkenswerte und tolle Frau! Sehr inspirierend zu lesen, danke!